DR. MED.
HENRICH STIFTUNG
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Vom Holocaust-Überlebenden zum Tierrechts-Aktivisten

Mein persönlicher Weg vom Holocaust zu den Tierrechten – und warum ich es angemessen finde, die Misshandlung und das Töten von Tieren für unser Essen mit dem Holocaust zu vergleichen.

Ich war fünf Jahre alt und lebte mit meinen Eltern in Warschau, als Hitlers Armee 1939 in Polen einmarschierte. Es war der Beginn des Zweiten Weltkriegs – und das Ende meiner Kindheit. Als Juden wurden wir gezwungen, in den jüdischen Teil Warschaus zu ziehen, der mit einer Mauer und Stacheldraht abgeriegelt wurde. In dem gefürchteten Warschauer Ghetto lebten bis zu 450.000 Menschen, eingepfercht auf engstem Raum. Es herrschten Hunger und eine Typhusepidemie, allein im ersten Jahr kamen fast 100.000 Menschen ums Leben. Die anderen wurden per Viehwaggon ins Vernichtungslager Treblinka geschickt.

Dr. Hershaft (2. von links) auf dem Auswandererschiff nach Amerika.

Meine Mutter und ich gehörten zu den wenigen, denen es gelang, aus dem Ghetto zu entkommen – dank eines russischen Kindermädchens, das mich als ihren Sohn ausgab. Alle anderen aus meiner großen Familie starben in den Gaskammern der Nazis. Wir versteckten uns bis zur Befreiung im Frühjahr 1945, danach lebten wir fünf Jahre in einem italienischen Flüchtlingslager. Mit 16 wanderte ich in die USA aus – alleine, meine Mutter hatte kein Visum bekommen.

Flashback im Schlachthof

Bei einer Protestaktion in Tel Aviv fuhr Dr. Alex Hershaft  in einem Viehtransporter durch die Straßen, in graue Lumpen gehüllt und mit gelber Marke am Ohr.

Im Gedenken an meinen Vater, einen bedeutenden Chemiker, studierte ich Chemie, promovierte und machte Karriere in der Umweltforschung. Aber etwas stimmte nicht, und es hatte mit meiner Vergangenheit zu tun: Ich fühlte mich schuldig, dass ausgerechnet ich überlebt hatte – und so viele andere Menschen nicht. Ich fragte mich, wie ich diese „Schuld“ zurückzahlen könnte – und welche Lehren ich aus der Tragödie ziehen könnte, die meiner Familie und meinem Volk widerfahren war.

Als ich 1972 für meine Arbeit einen Schlachthof besuchte, wurden mir die großen Ähnlichkeiten zwischen der Massentötung von Menschen und Tieren bewusst. Ich sah Berge von Körperteilen – stumme Zeugnisse fühlender Lebewesen, die nicht mehr existierten. Mir schossen die Bilder aus den Konzentrationslagern durch den Kopf: die Haufen von Haaren, Brillen, Schuhen. Ich versuchte, das als bloßen Zufall abzutun. Es sind ja nur Tiere, sagte ich mir immer wieder. Aber es funktionierte nicht. Meine Welt stand Kopf: Wenn wir Tiere so ähnlich behandeln wie die Nazis damals uns, wie kann eine aufgeklärte amerikanische Gesellschaft dies gutheißen? Sieht noch jemand, was ich sehe? Oder hatte ich den Bezug zur Realität verloren?

Rettung aus der Literatur

Meine Rettung war ein Zitat des jüdischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer. Er lässt eine Figur in einer seiner Kurzgeschichten sagen: „Für sie [die Tiere] ist jeder Mensch ein Nazi; für die Tiere herrscht jeden Tag Treblinka.“ Der Text zeigte mir, dass ich nicht der Einzige bin, der das Leid der Tiere anerkennt. Vielleicht gab es doch einen Grund, dass ausgerechnet ich überlebt hatte – und eine Möglichkeit, meine „Schuld“ zurückzuzahlen. Ich beschloss, den Rest meines Lebens dem Kampf gegen jegliche Unterdrückung zu widmen, angefangen bei der Unterdrückung von Tieren für Nahrungsmittel.

Die Ähnlichkeiten zwischen dem Holocaust der Nazis und unserer Behandlung von Tieren für Lebensmittel sind tatsächlich frappierend, von der breiten gesellschaftlichen Akzeptanz bis zur technischen Umsetzung. Heute wie damals gelten Menschenrechte und Tierschutz als beachtenswert, wir respektieren die Gesetze und halten uns für wissenschaftlich aufgeklärt. Trotzdem werden auch heute noch fühlende Lebewesen diskriminiert und ihre massenhafte Tötung sanktioniert. Die Viehwaggons, das Brandmarken, die hocheffizienten Gaskammern und die Verschleierungsversuche – das ist alles weiter im Einsatz.

Hund auf der Couch, Schwein auf dem Teller

Die Ursache liegt auf der Hand: Wenn wir einem Kind erzählen, dass der Hund auf seiner Couch geliebt und wertgeschätzt werden soll, das Schwein auf seinem Teller aber missbraucht und geschlachtet, bringen wir ihm bei, dass es okay ist, ausgewählte Opfer zu diskriminieren, zu unterdrücken und zu töten. Wir werden also auf ein selektives Mitleid konditioniert – wer sich schon mal mit ethnischen Konflikten beschäftigt hat, kennt das Prinzip: Die Gesellschaft normalisiert das Ausgrenzen und Abwerten anderer, es wird Teil unserer sozialen Identität. Und jeder, der die Legitimität dieser Grenze in Frage stellt, wird als Bedrohung wahrgenommen.

Genau deshalb wird auch der Vergleich zwischen Holocaust und Massentierhaltung als hinterhältiger Versuch gewertet, den Wert der menschlichen Opfer herabzusetzen – als könne man sie mit Schweinen vergleichen. Dabei ist es der erste Schritt, um die Geißel der Unterdrückung zu bekämpfen, dass wir uns nicht mehr auf die Opfer fixieren: Die Konzentration auf die Spezies, die Rasse, das Geschlecht, die Nationalität oder die Religion der Opfer spaltet uns nur. Stattdessen müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Ursachen lenken: Die mächtigen sozialen Normen, die die Unterdrückung sanktionieren. Tiere sind die verletzlichsten und daher die am meisten unterdrückten Lebewesen auf der Erde. Ihre Unterdrückung zu beenden, wäre ein guter Anfang, um alle Unterdrückung zu beenden.

Über den Autor

Dr. Alex Hershaft (87) ist einer der ältesten und einflussreichsten Tierschützer der Welt. 1976 gründete er die Tierrechtsbewegung FARM, kurz für: Farm Animal Rights Movement. Er organisierte die amerikanische Animal Rights Conference, die jedes Jahr Tausende von Aktivisten inspiriert hat. Er hat den Welttag für Nutztiere ins Leben gerufen, mit alljährlichen Protestaktionen vor Schlachthäusern. Und mit Meatout die weltgrößte Ernährungskampagne einer Basisbewegung – sie stand unter anderem Pate für den Meatless Monday von Paul McCartney und den Veggie Day der Grünen. Hershaft schrieb auch Hunderte von Leserbriefen über die Vorzüge einer veganen Ernährung: Seit 60 Jahren ist der Tierrechts-Pionier schon Vegetarier, seit 40 Jahren Veganer. In seinen Vorträgen und Workshops inspiriert Dr. Alex Hershaft bis heute zum Nachdenken und Mitfühlen – und zum selber aktiv werden.