«Die Ostsee droht zu ersticken, und das liegt vor allem an der Landwirtschaft.»
«Doch nicht immer verbirgt die Ostsee ihren Zustand wie an diesem Ferientag. Noch letzten Herbst spie das Meer hier, am Strand nahe Kiel, in Massen tote Fische aus. In den Jahren zuvor war das auch schon passiert. Tausende tote Schollen, angespült am Wasserrand. Man konnte sie als Zeichen sehen, wie schlecht es um die Ostsee steht. So schlecht, dass Fische in ihr ersticken. Immer größer werden die Gebiete, in denen dem Wasser der Sauerstoff fehlt. Todeszonen, sagen Meeresforscher, an denen der Mensch die Hauptschuld trägt.»
«Das Meer hat zu schlucken, was den Landbewohnern lästig ist. In der Zeit nach 1945 in Massen: Munitions-Altlasten, Industrieabwässer, Plastikmüll. Der menschengemachte Klimawandel, der das Wasser erwärmt, stresst die Ostsee zusätzlich. An diesem Zustand leidet die Ostsee besonders: an der "unerwünschten Zunahme eines Gewässers an Nährstoffen und damit verbundenem schädlichen Pflanzenwachstum". Stickstoff und Phosphor, um die es hier geht, nähren Kleinstalgen, die sich massenhaft vermehren. An manchen Tagen könne sie auf ihren Streifzügen unter Wasser fast nichts sehen, erzählt Sandra Piepiorka, so trübe sei das Meer durch die Algen. Manche Arten sind giftig, auch für Menschen. Doch verheerend für die Ostsee sind die Algen aus einem anderen Grund: Abgestorben sinken sie zum Meeresboden, wo Bakterien sie zersetzen, was sehr viel Sauerstoff verbraucht. Am Ende bleiben: Todeszonen, die leeren Wüsten gleichen. Ihre Größe hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts verzehnfacht und umfasst schon ein Sechstel der Ostsee. Und dem Rest geht es nicht viel besser.»
«Bereits 97 Prozent des Gewässers gelten als mäßig bis stark eutrophiert.»
«Ein Teil stammt aus Abwässern, etwa aus Kläranlagen, ein anderer aus Emissionen, zum Beispiel vom Verkehr. Das allermeiste aber kommt aus einem Bereich, der politisch zuletzt hart umkämpft war. Von einer Berufsgruppe, die sich besonders lautstark gegen allzu viele Vorschriften wehrt. Es geht um Bauern und das, was von ihren Feldern und Ställen ausgeht. Denn die größte Last der eutrophierten Ostsee sind die Nährstoffeinträge aus Dünger und Gülle.»
«Fünf Jahrzehnte politischer Abkommen, und noch immer ist die Ostsee überdüngt? Die Umsetzung der Helcom-Ziele sei ja stets freiwillig gewesen, sagt Minister Schwarz. Und der Widerstand gegen strengere Düngeregeln ist in Deutschland massiv. Zum Beispiel bauen Landwirte in Deutschland auf rund 60 Prozent ihrer Flächen Tierfutter an. Im Verhältnis ist das viel Platz für wenig Ertrag, denn bei der Umwandlung von pflanzlicher Nahrung in tierische Produkte geht jede Menge Energie verloren. Schweine beispielsweise benötigen bis zu neun pflanzliche Kalorien, um eine tierische zu erzeugen. Für Rinder liegt der Faktor sogar bei bis zu 25. Auf den allermeisten Ackerflächen ließen sich statt Futterpflanzen auch solche für die menschliche Ernährung anbauen. Im Ergebnis nahrhafter – und platzsparender. Weniger Fleischkonsum hieße also auch: weniger Anbaufläche und weniger Düngemittel. Weniger Emissionen und weniger Erderwärmung. Und am Ende weniger Schaden in der Ostsee.»
«Wer so viel Fleisch nachfrage, dürfe sich nicht wundern, dass die Ostsee kaputtgeht. Diesem Leiden schaut Reusch schon lange aus nächster Nähe zu. Der Meeresbiologe leitet den Forschungsbereich Marine Ökologie am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Und er hat an einer Studie mitgeschrieben, die 2018 für Aufsehen sorgte. Die Autoren nannten die Ostsee eine "Zeitmaschine": Aufgrund ihrer Beschaffenheit wirkten sich die Belastungen, die alle Meere treffen, hier viel schneller aus. So hätten Versauerung und CO₂-Gehalt des Ostseewassers bereits Werte erreicht, wie sie anderswo noch Zukunftsprognosen sind. Die Überfischung, auch sie ein globales Problem, ist in der Ostsee so fatal, dass die einstigen Brotfische Hering und Dorsch kaum noch vorkommen. Die Wassertemperatur sei hier schon jetzt um rund 1,5 Grad gestiegen – dreimal mehr als der Schnitt der restlichen Ozeane.»
«Diese Aufheizung beschleunigt wiederum die Eutrophierung: je wärmer das Oberflächenwasser, desto stärker die Wasserschichtung, desto schwächer die Durchmischung und desto mehr Algen. Und Todeszonen. Kollegen von Thorsten Reusch vom Ostsee-Institut in Warnemünde ermittelten dieses Szenario: Bei gleichbleibender Nährstoffbelastung steigt die Wahrscheinlichkeit von Algenblüten bis zum Ende des Jahrhunderts um das Zehnfache. Mit den bekannten Folgen. Ließe die Ostsee, diese siechende Patientin, sich dann überhaupt noch als lebendes Meer beschreiben?»
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